St. Brictius, 02.03.2006. Nein, er ist kein großer Mann. Seine Stimme ist nicht laut, sein Gestus sparsam, der Auftritt bescheiden. Das Manuskript trägt er in einem Baumwollbeutel bei sich. Bergschuhe, Baumwollhemd, Baskenmütze, Backenbart, Brille: Ein alter Mann: Ernesto Cardenal, 81 Jahre.Â
Die Musiker von Grupo Sal werden es gewohnt sein, dass ihr Spiel bei den Lesungen mit dem wohl letzten großen Mystiker des 20. Jahrhunderts vom Publikum eher als gefälliges Beiwerk wahrgenommen werden. Nicht sie sind das Besuchermagnet - allein Cardenal, Revolutionär, Dichter, Priester, Politiker, Weltenbummler, Autor und Idol einer ganzen Generation aufgeklärter Christen und linker Intellektueller ist es, der die Menschen in Scharen in die St. Brictius-Kirche strömen lässt. Aber man muss es einmal sagen: Sie verdienen mehr als das. Und das werden sie an diesem Abend dem Schöppinger Publikum beweisen.
Doch zurück zur Hauptperson des Abends: Cardenal liest aus seinen Gedichten. Zeitlebens hat der am 20. Januar 1925 in Nicaragua geborene Literat geschrieben. Auch am Tisch vor dem Altar von St. Brictius greift er immer wieder zum Stift, macht Notizen, während in Lesepausen Stücke aus Argentinien, Kolumbien, Chile und anderen lateinamerikanischen Ländern erklingen. Im Spiegel der vorgetragenen Lyrik lässt Cardenal Stationen seines bewegten Lebens Revue passieren: Noviziat bei den Trappisten in Kentucky, Studium in Mexiko und Kolumbien, die Jahre in Solentiname, der Kampf gegen die Somoza-Diktatur und die Jahre, als ich verliebt war in die Mädchen. Von Heimweh und Liebe handelt die Lyrik Cardenals, von Gottesliebe, vom Rätseln über die Ordnung der Dinge und vom Zorn über Ausbeutung und Entfremdung in Politik und Kultur US-amerikanischer Prägung.
El loco - der Verrückte - heißt eins der Stücke, die Grupo Sal spielen. Utopie und Wahnsinn sind Zwillingsgeschwister, erklärt dazu der Musiker Sergio Pinto. Das Stück ist allen gewidmet, die sich weigern, ihren Traum aufzugeben, dass eine bessere, gerechtere Welt möglich ist. Ernesto Cardenal ist einer dieser Verrückten. Und so erklärt sich auch, warum er sich im hohen Alter die Strapazen einer Lesereise antut. Er müsste es nicht: Er hat mehr Schlachten geschlagen als viele Zeitgenossen - manche gewonnen, viele verloren. Doch in seiner Heimat Grenada gibt es etwas, das die Mühe lohnt: Die Casa de los tres Mundos, ein Hilfsprojekt für Straßenkinder, für das er Spenden sammelt - mit der gleichen Sturheit und Sanftmut mit der er einst den Militärgerichten stand hielt. Im Gedicht Auf dem See, entstanden nach einem Verhör der Somoza-Schergen, schrieb er damals: Das Leben geben, heißt sich der Zukunft opfern.
(Christiane Nitsche, Westfälische Nachrichten, 10.3.2006)
Vorbericht zur Konzertlesung aus den WN
Von Liebe, Mystik und Revolution
Ernesto Cardenal und Grupo Sal mit Konzertlesung in Schöppingen Laudatio, wiedergelesen von Johann Baptist Metz
Ernesto Cardenal, weltberühmter Dichter, Priester und Revolutionär kommt am Mittwoch, 8. März 2006, 20.00 Uhr zu einer Konzertlesung in die St. Brictius-Kirche Schöppingen. Cardenal ist mit seiner Poesie und seinem politischen Engagement zu einem Symbol für Christentum und gesellschaftliche Veränderung geworden; eine Existenz auf der Seite der Armen und Entrechteten.
1966 gründete Cardenal in Solentiname eine Gemeinschaft von Malern und Dichtern. In seiner Heimat Nicaragua kämpfte er gegen die Somoza-Diktatur bis er ins Exil gezwungen wurde. Nach dem Sturz des Diktators war er unter den Sandinisten von 1979 bis 1985 Kulturminister. Mit seinem unermüdlichen Einsatz für die Theologie der Befreiung riskierte er den Streit mit dem Vatikan und wurde 1985 vom Priesteramt suspendiert. Mit den Sandinisten brach er, als deren wachsende Machtansprüche mit seinen Vorstellungen von Demokratie nicht mehr vereinbar waren.
Seine so umstrittene wie geliebte Person wurde zu einer lebenden Legende und sein Werk mit zahlreichen Auszeichnungen, wie 1980 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels, geehrt. Wichtige Buchtitel Ernesto Cardenals: "Das Buch von der Liebe", "Die Jahre in Solentiname", "Im Herzen der Revolution", "Niemand ist mir so nahe" (Hammer Verlag Wuppertal).
Die Lesung in Schöppingen - als Übersetzer wirkt Heinrich Schäfer mit - spiegelt das poetische Schaffen Ernesto Cardenals in seiner ganzen Vielschichtigkeit: sein politisches Denken und seine Mystik, seine Begeisterung für die Revolution ebenso wie seine Liebe zu Gott. In der vorgestellten Auswahl bekannter und weniger bekannter Gedichte kommt die Quintessenz seines Lebenswerkes zum Ausdruck.
Das Musikensemble Grupo Sal bereichert mit einer abwechslungsreichen und immer wieder neuen Auswahl von Liedern aus Süd- und Mittelamerika den Vortrag Cardenals und der Übersetzung mit lyrischen und belebenden Momenten. Eigene Kompositionen und jazzige Arrangements gehen weit über das bekannte Repertoire lateinamerikanischer Komponisten und Liedermacher hinaus und machen den unverwechselbaren Stil von Grupo Sal aus.
Professor Johann Baptist Metz (Universität Münster) wird in Auszügen seine Laudatio bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (1980) an Ernesto Cardenal vortragen. Titel: "Ernesto Cardenal - ein produktives Ärgernis".